Gestern (11. Juli) fand an den Dortmunder Katharinentreppen eine Kundgebung unter dem Motto „Kein Schlussstrich unter den NSU“ statt. Ein Jahr ist das Urteil im Münchener NSU-Prozess nun her. Noch immer herrscht Wut über das aus Sicht vieler Hinterbliebener unzureichende Verfahren und offene Fragen. Darum hat das Bündnis „Tag der Solidarität | Kein Schlussstrich Dortmund“ eine Kundgebung an den Dortmunder Katharinentreppen veranstaltet. Mit einer Wanderausstellung und einer Audioinstallation mit Statements von Angehörigen der NSU-Opfer hat das Bündnis ihre Perspektiven sichtbar gemacht und Forderungen angebracht: „Es darf keinen Schlussstrich unter den NSU geben“, fordert Marie Kemper, Pressesprecherin des Bündnisses. „Der Prozess ist nun ein Jahr vorüber, aber die Kritik am Rassismus und der Untätigkeit der Behörden bleibt, genauso wie die blinden Flecken, die der Prozess gelassen hat.“
„Warum Mehmet, warum ein Mord in Dortmund, gab es Helfer in Dortmund, sehe ich sie heute vielleicht immer noch, es gibt so viele Nazis in Dortmund, und was wusste der Staat?“ fragte Elif Kubaşık, die Ehefrau des 2006 ermordeten Dortmunders Mehmet Kubaşık in ihrem Plädoyer im November 2017 vor dem Münchener Oberlandesgericht. So gut wie alle diese Fragen seien offen geblieben, sagt Marie Kemper vom Bündnis. „Die Bundesanwaltschaft ist auf Biegen und Brechen bei ihrer These vom Trio geblieben, obwohl sie nicht haltbar ist. Es ist bekannt, dass der NSU Hilfe hatte, sei es das Ausspähen von Tatorten, das Beschaffen von Waffen und Geld oder das Borgen von Krankenversicherungskarten“, kritisiert Marie Kemper. Eine Folge: Zwei wichtige Helfer, ohne die das Kerntrio das Leben im Untergrund nicht hätte managen können, haben so geringe Strafen erhalten, dass sie heute wieder auf freiem Fuß sind.
„Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein“, kritisierte 2012 Semiya Şimşek, Tochter des ersten NSU-Opfers Enver Şimşek. Denn in allen neun Morden gegen Migrant*innen, wie auch in Dortmund, ermittelten die Behörden zuerst vor allem gegen die Familien der Opfer. „Die in großen Teilen rassistischen Theorien der Ermittlungsbehörden haben zusätzlich Opfer zu Täter*innen gemacht, sie haben Hinterliebene beschuldigt, Familien und Freundschaften zerstört“, sagt Marie Kemper. „Anschlag nach dem Anschlag“ nannten es die Menschen in der Kölner Keupstraße nach dem Nagelbombenattentat. „Diese Diffamierung, die erst mit der Selbstenttarnung des „NSU“ endete, kann niemand wieder gut machen.“
Der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten hat erneut gezeigt, dass die Gefahr durch Rechtsterrorist*innen eine reale ist. Der mutmaßliche Mörder Stefan E. war vor zehn Jahren am Angriff auf die Dortmunder DGB-Demo beteilgt und hatte Kontakte zu Stanley Röske, Schlüsselfigur der Kasseler Neonaziszene und von der rechtsterroristischen Gruppierung Combat 18 in Deutschland. Außerdem stand Stefan E. auf der Zeug*innenliste der Linken im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss. „Und soll jetzt ein Einzeltäter gewesen sein. Das ist unbegreiflich“, so Kemper.
Ihr Bündnis fragt zugleich, wie sich die Politik zur Gefahr von Rechts verhalten möchte. „Die Landesregierung lässt sich von niemanden in der Bekämpfung des Rechtsterrorismus übertreffen“, äußerte Innenminister Reul vergangene Woche im Innenausschuss NRW. Trotz der neuen Erkenntnisse, die rund um den NSU, den Mord an Walter Lübcke und die Neustrukturierung von Combat 18 bekannt wurden, scheinen die Behörden rechten Terrorismus immer noch nicht realistisch einzuschätzen. „Der Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz schafft es sogar, Combat 18, die sich offen auf den bewaffneten Kampf beziehen, in seinem aktuellen Bericht ganze drei Mal zu erwähnen, in nichtssagenden Kontexten“, so Kemper weiter. „Der Verfassungsschutz setzt weiter auf Blocken, Schweigen und die Verantwortung verschieben. Und der Staat versagt an dieser Stelle. Seine Institutionen schützen die Menschen, die hier leben, nicht. Wir als Zivilgesellschaft dürfen nicht den Fehler machen, wieder nicht hinzuschauen. Rassismus und Naziterror sind Gefahren, die uns alle angehen und mit der wir die Opfer nicht allein lassen dürfen. Darum haben wir heute die Kundgebung organisiert“, erklärt Kemper. „Wir wollen auch daran erinnern, dass es die Betroffenen und die Hinterbliebenen sind, die im Mittelpunkt des Geschehens stehen sollten. Ihre Forderungen sind es, die in den letzten acht Jahren viel zu weng gehört wurden.“